Liebe Freundinnen,
liebe Freunde,

Walter Mossmann, Mitbegründer der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen
hat auf Einladung am Freitagabend, den 19. November 2010 eine kleine Rede
auf dem Bundesparteitag von Bündnis 90 / Die Grünen in Freiburg gehalten:

Thema: "In der Mitte angekommen"

Anbei übersende ich diese Rede, welche nun auch in unserer Homepage
www.badisch-elsaessische.net veröffentlicht wird!


Mit herzlichen Grüßen

Erhard Schulz
Mitglied im Sprecherkreis der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen

 

Hier das Redemanuskript:

 

 

«IN DER MITTE ANGEKOMMEN»
 
(Redemanuskript WM, 19.11.2010, Freiburg, BDK Bündnis90/DieGrünen)
 
Als mich Claudia Roth zu ihrem Parteitag in meiner Stadt eingeladen hat, habe ich Marianne Frit­zen im Wendland gefragt: Was soll ich sagen? Sie hat geantwortet: «Erinnere sie an ihre Wurzeln!».
 
Ich werde es versuchen.
 
Zu diesem Zweck greife ich einen Satz auf, den ein Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannen­berg am vorletzten Wochenende in irgendein Mikro gesprochen hat.
 
«Jetzt sind wir in der Mitte der Gesellschaft angekommen».
 
Diese Aussage wurde dann wie üblich auf allen Kanälen tagelang wiederholt, und passenderweise trat zur selben Zeit in irgendeiner Talkshow eine Demonstrantin aus Stuttgart auf, die gestand, dass sie, obwohl normalerweise CDU-Wählerin, sich diesmal im Schlossgarten dem Wasserwerfer aus­gesetzt habe. Offenbar ein lebendiger Beweis für die These: Jetzt sind wir in der Mitte der Gesell­schaft angekommen.
 
Ich habe mich gefragt: Wo kam sie denn eigentlich her, diese Anti-AKW-Bewegung, dass sie einen derart weiten Weg in die Mitte der Gesellschaft zurücklegen musste?
 
In meiner Erinnerung k a m nämlich das, was wir «Anti-AKW-Bewegung» nennen, aus der Mitte der Gesellschaft, und zwar fast zeitgleich in ganz Westeuropa und in den USA. Das war doch die Pointe der Geschichte, dass die regierende CDU in Baden-Württemberg einen Teil ihrer «ange­stammten» Clientel an die Bürgerinitiativen verlor und nicht wusste, wie ihr geschah.
 
Die Organisationsform «Bürgerinitiative» war zunächst schwer zu begreifen. Politik machen mit nur einem einzigen Thema! Sich organisieren quer zu sämtlichen Parteien, zu den Alterskohorten, zu den sozialen Schichten! Sich wildwuchernd weithin vernetzen, auch über die nationalen Grenzen hinweg!
 
Heute, scheint mir, hat sich das Konzept Bürgerinitiative als ein komplementäres Element in unse­rer Parteiendemkratie etabliert.
 
Die Orte der Auseinandersetzung waren zunächst die Dörfer, die sich die Atomindustrie als Stand­orte ausgesucht hatte. Dort entwickelten die Bürgerinitiativen ihr Konzept der zivilen Verteidigung, oder wie es 1974 in Wyhl wörtlich hieß, den gewaltfreien Widerstand «gegen die Gewalt, die uns mit diesen Unternehmen angetan wird». (In Brokdorf wurde dann zwei Jahre später die erste Erklä­rung der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen im Wortlaut übernommen).
 
Was neu war: Auf den besetzten Plätzen in Marckolsheim, Wyhl oder Kaiseraugst trafen sich nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen aus der linken Szene, auf die sich Polizei und Justiz längst ein­geschossen hatten, vielmehr kamen dort Leute zusammen, die eigentlich gar nicht zusammen gehör­ten, deshalb ging es ja auch in Wyhl viel lustiger zu als bei den Parteimeetings der Moskau- oder der Peking-Kommunisten. Im Freundschaftshaus auf dem besetzten Platz in Wyhl trafen Winzer-genossen und katholische Landfrauen auf eine Jugendgruppe der IG Metall oder auf die Stuttgarter «Plakat»-Gruppe mit Willi Hoss und Peter Grohmann, es trafen sich evangelische Pfadfinderinnen aus Heidelberg mit bündischen Jungs aus Hamburg und Grauen Panthern aus Westberlin, es kamen denkende Sozialdemokraten, die sich gerade mit Erhard Eppler gegen Helmuth Schmidt auf­richteten, es kamen die Religiösen von den Anthroposophen bis zu den Zen-Buddhisten, dazwi­schen Linkskatholiken, Pfingstler, Basisgemeinden, orthodoxe Russen, reformierte Juden, laizisti­sche Iraner, synchretistische und tolerante Brasilianerinnen, es kamen deutsche Männergesangsver­eine, französische Feministinnen, geoutete Schwule, heimliche Heteros, Spontis, Maoisten, Trotz­kisten, Anarchisten, Ornithologen, Vegetarier, Verteidiger des SED-Regimes, die absurderweise auf volkseigene Atomkraftwerke vom Typ Tschernobyl setzten, es kamen Leute vom Schwarzwaldver­ein, von den Vosges Trotter Colmar, von der Skizunft Brend, es kamen Pazifisten, Reserveoffiziere und die Schnapsnasen aus Webers Weinstuben, es kamen alte Leute, die ihre Ideen vom Naturschutz aus der nationalsozialistischen Erziehung mitbrachten, es kamen kritische Architekten, Mediziner, Pädagogen, Journalisten, frustrierte Orchestermusiker, grübelnde Polizisten, und sie trafen auf den Apotheker vom Kaiserstuhl, den Schmied, den Schreiner, die Ärztin, die Chemikerin, den Müller, den Fischereimeister, den Tabakbauer, die Winzerin, die Lehrer, die Pfarrer, und sie trafen Werner Mildebrath, den Elektriker aus Sasbach, der schon 1975/76 den Leuten seine Sonnenkollektoren aufs Dach setzte, denn die Bürgerinitiativen arbeiteten schon damals an erneuerbaren Energien und sie organisierten 1976 die Sonnentage von Sasbach, als die Stuttgarter Regierung noch einfältig und doktrinär an das Perpetuum Mobile namens Atomkraft glaubten. Wenn ich heute die Herren Söder und Röttgen höre, wie sie sich brüsten mit ihrer Revolutionierung der Energieversorgung zugunsten der Erneuerbaren, dann denke ich: Schweigt Ihr doch lieber fein stille und pilgert hinaus nach Sas­bach zu Werner Mildebrath und versucht ihm das Bundesverdienstkreuz anzudrehen, vielleicht nimmt er es an.
 
In der taz las ich dann gestern diesen zauberhaft ahnungslosen Satz:
 
«Wenige Kilometer weiter (von Freiburg aus gesehen), in dem Örtchen Wyhl, einte in den 70er Jah­ren der Widerstand gegen ein geplantes Atomkraftwerk eine breite Front Bürgerbewegter - einer der Vorläufer der Grünen entstand.»
 
Abgesehen davon, dass das «Örtchen» Wyhl vielleicht etwas zu klein gewesen wäre für die «breite Front Bürgerbewegter», die es damals im Dreyeckland mit einem halben Dutzend Atomanlagen zu tun hatte, mal abgesehen also von dieser eher spitzwegerischen Phantasie der taz – das Wort «Vor­läufer» hat mich auf die Palme gebracht. Die Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen als Vorläufer, quasi wie Johannes der Täufer mit dem überlangen Zeigefinger hinweisend auf die eigentliche Ver­heißung, die Partei Bündnis90/Die Grünen. Derartige Hagiografie ist mir vollkommen zuwider.
 
Mir scheint, die Bürgerinitiativen waren keine Vorläufer der Grünen, sondern die grünen Parteien in Europa waren eine der zwangsläufigen Folgen der Ant-AKW-Bewegung. Eine Folge unter vielen anderen, denn das Neue Denken, das wir unter der Chiffre «ökologisch» fassen, hat seither in alle Bereiche der Gesellschaft hineingewirkt, selbstverständlich auch in die anderen Parteien, übrigens auch in die Parteibasis der CDU, das musste schon der Vorläufer von Stefan Mappus, der damalige Ministerpräsident Hans Karl Filbinger erleben.
 
Umso grotesker, wenn heute immer noch die Regierungen in Stuttgart oder Berlin vor die Presse treten, und mit dem Untergang des Abendlandes drohen, falls ihre Großprojekte nicht akzeptiert würden. Das Wort «Großprojekt» wird dabei ohne jedes weitere Attribut gebraucht, als ob schon al­lein die schiere Größe ein Garant für Bedeutung und Nutzen wäre.
 
Ich gebe zu, Wyhl ist ein vergleichsweise kleines Großprojekt gewesen, aber es war damals ja auch nur ein Mosaikstein, Teil eines wirklich flächendeckenden Groß-Projektes. Hier am Oberrhein sollte ein neues Ruhrgebiet entstehen, basierend auf der unermesslichen Energiepoduktion einer «Perlen­kette von Atomkraftwerken am Rhein».
 
1972 brachte der Club of Rome «Die Grenzen des Wachstums» heraus, und im selben Jahr veröf­fentlichte der Staatsanzeiger Baden-Württemberg einen Text, der alle technokratischen Tabula-rasa-Fantasien, die wir bisher kannten, bei weitem übertraf: «... rückt nämlich die EWG noch näher zu­sammen, was allgemein erwartet wird, so wird das Rheintal zwischen Basel und Frankfurt die Wirt­schaftsachse überhaupt werden. Ob dann noch Platz für den Umweltschutz ist, muss bezweifelt werden. Sachverständige Leute sind deshalb der Ansicht, die Ebene solle für gewerbliche und in­dustrielle Nutzung freigegeben werden, während die Funktionen Wohnen und Erholung in die Vor­bergzone und in den Seitentälern angesiedelt werden sollen.»
 
Selten habe ich eine Technokratenprosa gelesen, die den eigentümlichen Irrsinn dieser Spezies so unverblümt auszudrücken in der Lage war. Ich lese den Text nicht nur als einen gewalttätigen und biedermännisch elitären (die höchste Instanz sind die «sachverständigen Leute» – wer wohl?), son­dern auch als eine hoffnungslos veralterte Industrie-Vision, schlechtes neunzehntes Jahrhundert, rückwärts gewandte Utopie. Und dann die Stuttgarter Prognose: «Kein Platz mehr für Umwelt­schutz» – man schrieb das Jahr 1972!
 
Die Antwort auf diese Bedrohung war dann die Gründung der Föderation der 21 Badisch-Elsässi­schen Bürgerinitiativen. Allein in den Jahren 1974 und 1975 stoppte das Netzwerk der Bürgerinitia­tiven an drei Orten im Dreyeckland den Bau von zwei Atomkraftwerken und einem Bleichemie­werk, d.h. drei hochgerüstete Industriestaaten mussten vor diesem neuartigen gewaltfreien Wider­stand zurückweichen. Dass das scheinbar Unmögliche möglich ist, das war dann die ermutigende Botschaft von Wyhl. Gut, diese Erfolge sind nicht irgendwelchen genialen Strategien zu verdanken, sondern der Gunst der Stunde, will sagen, die Bürgerinitiativen wurden von den Machthabern glücklicherweise vollkommen unterschätzt.
 
Wohlbemerkt: Auch die Projekte in Wyhl, Marckolsheim und Kaiseraugst waren abgesegnet auf al­len politischen und juristischen Ebenen, aber sie wurden dann sang- und klanglos eingestellt, weil sie politisch nicht durchsetzbar waren. Der Rechtstaat kam dabei nicht zu Schaden, die Demokratie auch nicht, ganz im Gegenteil, und sogar die Lichter gingen nicht aus, wie Filbinger prophezeit hat­te, stattdessen ging vielen ein Licht auf, aber davon war ja heute schon die Rede.
 
Zum selben Schluss kam vier Jahre später Ministerpräsident Albrecht in Hannover. Die Plutonium­fabrik WAA sei politisch nicht durchsetzbar. Und nun, noch einmal 30 Jahre später, nachdem her­ausgekommen ist, dass sich die Betreiber ihre Genehmigung mit allerlei Tricks erschlichen haben, dass die Entscheidung für Gorleben eine politische war und den Gegebenheiten des Kalten Krieges geschuldet, und nachdem wir in der Asse gesehen haben, was die Versicherungen der sachverständi­gen Leute wert sind, erleben wir, dass eine neue Politiker-Generation wieder einmal Sicherheits-Ga­rantien für ein Endlager Gorleben abgibt auf unabsehbare Zeit. Wer diesen Garantien glaubt, kann wohl nicht ganz bei Trost sein.
 
Am vorletzten Wochenende haben viele Medien und die Politiker der schwarzgelben Koalition die Demonstranten im Wendland nur als Fußtruppen der grünen Parteiprominenz angesehen, weil sie selbst eben nur in den Kategorien von Führern und Verführten denken. Ich meine, nach Euren viel­beachteten Auftritten im Wendland sollte nunmehr von diesem Parteitag an Signal ausgehen, das als Ziel unzweideutig formuliert: Der Standort Gorleben muss definitiv aufgegeben werden. Dreiund­dreißig Jahre sind genug, mehr ist den Menschen im Landkreis Lüchow-Dannenberg nicht zuzumu­ten. Ich höre die richtige Mahnung, man sollte nichts versprechen, was man nicht halten kann. Rich­tig. Aber man kann auch etwas als Ziel formulieren, und dann wirklich alles dransetzen, dieses Ziel zu erreichen.
 
 
 
© Walter Mossmann, 2010